Bootstour zu den Flussgemeinden

Pastor Bokeka und Mama Veronique

Während dieser Reise traf ich auch Pastor Bokeka mit seiner Frau Veronique und ihrem neuen Töchterchen Bébé. Gleich nach einer gewaltigen Drückerei fing er an:

„Wirst du jetzt dein Versprechen einlösen und meine zehn Gemeinden besuchen, die die Weißen nie besuchen wollten?“

Seine Gemeinden liegen alle am oder auf Inseln im Fluss. Die meisten Dörfer sind Pfahlbaudörfer und mindestens ein viertel Jahr ohne Land. Die Leute leben ausschließlich vom Fluss. Es gibt dort so fantastisches Fisch-, Krokodil-, Kranich- und Wasserschlangen zu essen, dass man sich so etwas auf dem Festland gar leisten und auch nicht ausdenken könnte. Weiße gehen da aber nicht hin, weil da der Präsident der Moskitos sein Hauptquartier hat. Dort gibt es auch keine Toiletten.

Nachdem ich meine Terminideen bedacht hatte und Bokeka mir versprochen hatte, dass ich jede Nacht ein Mückennetz bekäme und wir zuletzt in Mbandaka landen würden, kontrollierte ich meinen Vorrat an Autan und sagte zu. Von einer Matratze hatte er nichts gesagt.

Es ist wie in Deutschland: Man muss bei Verträgen auch immer das Kleingedruckte lesen. Jedenfalls verstauten wir meinen Seesack im Einbaumboot von Tata Bokeka, mit Holzknüppeln unterbaut, damit eindringendes Wasser darunter durchfließen kann. Diese Boote sind alle aus einem Stück aus einem Baumstamm gehauen. Wenn sie mal zwei Wochen in der Sonne gelegen haben und die ersten Risse aufweisen, sind sie alle nicht dicht und man muss immer wieder Wasser schöpfen.

Je nach Größe kippen sie schnell, und Nichtschwimmer sollten besser daraus bleiben. Sie werden stehend gepaddelt und flussaufwärts ist das bei der Strömung unter der unbarmherzigen Äquatorsonne eine wirkliche Schufterei. Es gibt Boote, die weit über zehn Meter lang und über einen Meter breit sind.

Aber die Fischerboote, mit denen man in der Regenzeit in den Wald fahren kann, erinnern eher an Wasserskier und nur ein Artist kann damit umgehen. Aber hier sind Kinder und Opas und Omas solche Artisten und die Grazie und Kraft der Frauen auf dem Fluss kann man auch nur bewundern.

Der Lulongafluß ist eine Traumlandschaft mit tausend Inseln und Sandbänken. Diese Weite erscheint einem irgendwie unendlich und hatte immer einen ganz starken Eindruck auf mich, wie keine andere Landschaft auf der Welt.

Wenn ich mal zwei Tage auf dem Fluss war, kam etwas, wie die ganz große Freiheit über mich. Ich kam dann in einen regelrechten Rauschzustand der Weite und Freiheit. Aber ich wollte jetzt auch noch in Manyanga zwischenlanden und meinen alten Freund Pastor Boyaka besuchen. So sind wir denn auch den kleinen Nebenfluss Eleku hochgefahren.

Manyangageschichten

Die Mündung des Eleku in den Lulongafluß kann man nicht sehen. Man muss genau wissen, welche Zweige man am Lulongaufer hochheben muss, um mit dem Boot unter den Bäumen durchzukommen. Irgendwo wird es Licht und man erkennt das Flüsschen und ist plötzlich in einer andren Welt – ein Programmwechsel, wie wenn man die Fernbedienung des Fernsehers bediente.

Pechschwarz ist das Wasser, und riesige Schmetterlinge taumeln darüber und es gibt wundersame Vögel im Schilf und den Uferbäumen. Hin und wieder springt ein Fisch und man sieht auch kleine fliegende Fische. Jetzt schien es so, als ob sich nie etwas verändert hätte, als ob alle Blätter noch genau so an den Bäumen hingen, wie früher.

Da, die kleine Lichtung mit einigen Lehmhütten mit Palmblattdächern. Wunderschöne nackte Kinder winken uns mit ihren hellen Handflächen zu und einige springen ins Wasser und wollen zu uns schwimmen, aber wir sind zu schnell.

Ein Mann trommelt wie wild auf einem ausgehöhlten Baumstamm herum. Der telefoniert nach Manyanga, dass wir kommen. Im nächsten Dörfchen das Gleiche.

Langsam verfärbte sich der Streifen Himmel den die Riesenbäume über uns frei ließen. Alles vergoldete sich, die Kinder, die Lehmhütten, das schwarze Wasser, das Schilf, die unterschiedlichen Blätter der Bäume – blaugold, schwarzgold, braungold, grüngold. Vielleicht sehen ich selbst auch golden aus – weißgold. Das konnten aber nur die andern sehen.

Dann veränderte sich alles über Violett zu einer kurzen Dämmerung und es wurde ganz schnell dunkel und grau und schwarz. Hinter einer Biegung sahen wir auf einmal viele winzige Lichter und Bokeka rief: „Das ist Manyanga.“

In der Dunkelheit fuhren wir mitten in die Lichter und in Gesang hinein. Die Leute standen bis weit ins Wasser und wir fuhren mitten dazwischen und waren plötzlich ganz von fröhlich singenden schwarzen Menschen mit Petroleumlichtern umgeben. Es gibt Erlebnisse in Europa, aber es gibt ganz andere in Manyanga.

Mosingozauberer

Vier Kirchen hatten wir früher im Kreis Manyanga gebaut und ich kannte fast alle Leute. Nirgendwo in der Region Équateur gab es soviel Beschwörung, Hexenwerk, Magie, Zauberei. An jeder Hütte, selbst bei eifrigen Kirchgängern waren Fetische und Amulette angebracht.

Die Mosingozauberer hatten damals viel Zulauf und eine große Ausbreitung. Sie liefen überall bewaffnet und sehr dekorativ gelb und weiß bemalt herum. Wenn man nicht richtig gläubig war, konnte man regelrecht Angst vor ihnen bekommen. Sie machten wirklich viel Unfug und hätten einmal fast den alten holländischen Priester in Mampoko totgeschlagen.

In Manyanga waren sie ganz verrückt und haben sogar eine kleine Lehmkapelle abgerissen und viele Obstbäume gefällt. Sie wollten alles wieder wie früher haben, als es nur Dschungelbäume gab. Die alten Afrika-Religionen wollten sie auch wieder einführen, aber davon hatten sie keine wirkliche Ahnung mehr.

Sie kamen damals auch in die Hütte von Pastor Boyaka und nahmen die Stühle mit für ihre Versammlung. Tata Boyaka nahm den Tisch auf den Kopf und trug ihn hinter den Zauberern her. Als sie ihn fragten, was er damit wolle, sagte er:

„In meiner Bibel steht: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand dir deinen Rock nehmen will, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Hier, ihr habt die Stühle genommen, dann müsst ihr auch den Tisch nehmen!“

Jetzt sind die Mosingos nicht mehr da. Der Krieg zwischen Mbemba-Rebellen und Kabila-Truppen endete dort gerade. Soldaten, Rebellen und Banditen mit ihren Waffen sitzen nun dort im Dschungel und wissen nicht wie es weiter gehen soll. Sie nehmen was und wen sie wollen.

Die Zivilbevölkerung, die dort noch lebt, leidet furchtbar. Ihre Hütten sind zerstört oder beschlagnahmt, ihre Felder werden geplündert. Niemand kümmert sich um die Milizen. Die Kriegsführer, die sie bis dahin gebracht haben, haben das Interesse an ihnen verloren.

Die meisten sind mehrere tausend Kilometer von zu Hause entfernt, wenn es denn überhaupt noch ein Zuhause gibt. Ehemalige Kindersoldaten sind dabei. Man weiß nicht, wen man mehr bedauern soll, die Geplünderten oder die Plünderer.

Pastor Boyaka

Zwei Tage sind wir in Manyanga geblieben und nachmittags nach dem Essen gingen wir oft in das weit verstreute Dorf und Boyaka stellte mir seine Gemeindeglieder vor.

„Hier wohnt Lingongo der Diakon. Wegen ihm habe ich ein Problem in der Gemeinde. Lolaka, ein anderer Gemeindediakon im Nachbardorf hat Geld der Kirche veruntreut. Ich habe Lingongo zu ihm geschickt, mit der Botschaft, ich würde am übernächsten Tag zu ihm kommen und seine Abrechnung überprüfen. Er solle bereit sein.

Lingongo ist dahin gegangen, aber Lolaka hatte Angst und hat Lingongo überredet: Komm, wir gehen einige Wochen zusammen auf die Jagd. Es gibt jetzt am Ikelemba-Fluss viele Wildschweine.

Lingongo konnte nicht widerstehen und sie gingen zusammen. Am zweiten Tag stiegen sie einen kleinen Hügel hinauf, Lolaka vorauf und Lingongo dicht dahinter. Er hatte sein Gewehr auf dem Rücken und bückte sich unter die Zweige hindurch. Da hat sich eine Liane am Abzug verheddert und die Schrotladung hat Lolaka getroffen, und der war sofort tot.

Jetzt haben alle Leute Angst vor mir und sagen: „Wenn du dem Pastor nicht gehorchst, stirbst du am nächsten Tag!“ Ich will aber nicht, dass die Leute Angst haben, sie sollen mich lieben. Wie kann ich ihnen sonst das Evangelium verkündigen?“

Die Nacht, in der die Engel kamen

Einmal haben Boyaka und ich den alten Evangelisten Samuel besucht. Er war schon sehr schwach und ungefähr 97 Jahre alt. Aber er war noch ganz fit im Kopf und als ich ihn fragte: „Tata, wie alt bist du denn wirklich?“ sagte er:

„Junge, das kann man nicht wissen. Als ich geboren wurde, ist hier noch nicht gezählt worden. Unsere Mama hat uns alle auf große Bananenblätter geboren und ich war schon groß, als ich die erste Hose angezogen habe. Aber als die ersten Weißen hier herauf kamen, hatte ich schon Haare unter den Achseln, und jetzt können wir hier schon sehr gut zählen, mein Junge.“

1887 sind die ersten Missionare nach Bonginda gekommen, ein Dorf, das nicht all zu weit von der Elekumündung am andern Ufer des Lulonga-Flusses liegt. Der erste war ein Engländer, Jon Mc. Kittrick. Die Leute am Eleku hatten die Ankunft der Weißen schon vorhergesagt und deswegen keine Angst vor ihnen – anders als andere Menschen. Aber im Manyangagebiet passierte in dieser Zeit noch etwas Mysteriöses.

Tata Samuels Vater war damals ein großer Häuptling. Die Jäger eines Nachbardorfes kamen in die Gegend und stahlen eine Frau. Die Frau war jung und auch schön, und so war es Aufgabe des Häuptlings, sie wieder zurück zu holen.

Er verfolgte die Jäger und holte sie nach drei Tagen ein. Es kam zu einem harten Kampf und dabei wurde er schwer verletzt. Aber sie ließen ihn leben und sagten:

„Diese Wunde wird dir wohl genügen. Wir lassen dich leben, und du kannst nach Hause gehen. Weil wir gesehen haben, wie mutig du für deine Sache gekämpft hast, geben wir dir auch die Frau wieder.“

Drei Tage ging er mit der Frau wieder zurück und wegen der großen blutenden Wunde wurde er sehr schwach. Als er endlich ins Dorf kam und die Leute seine große Wunde sahen, wollten sie dort jemand lynchen, der zur Sippe der Jäger gehörte. Er hing sich aber mit letzter Kraft an ihn und hat gesagt:

„Es ist genug Blut geflossen. lasst ihn leben, oder tötet uns beide.“

In der Nacht im Wundfieber erschienen ihm die Engel und er erzählte ihnen die ganze Geschichte, wie er gekämpft hatte, verwundet wurde und mit letzter Kraft zurückgekommen sei. Darauf sagten die Engel zu ihm:

„Wir haben das alles gesehen, auch, wie tapfer du bist. Wir haben aber auch gesehen, dass du ein gerechter Mann bist und weiteres Blutvergießen im Dorf verhindert hast. Du hast deinen Nachbarn vor der Volkswut gerettet.

Du bist jetzt aber sehr krank. Wenn du gesund werden willst, wirf alle deine Fetische, Amulette und Zaubermedizin weg, die du im Haus hast. Nimm auch den Verband von deiner Wunde und tropfe den Saft einer bestimmten Pflanze darauf, und decke die Wunde mit den Blättern dieser Pflanze ab.“

Der alte Samuel zeigte mir die Pflanze dicht bei seiner Hütte. Wenn man die Stängel durchbrach, kam weißer Saft heraus. Diese Pflanze war vorher nie zur Wundbehandlung benutzt worden. Dann hatten die Engel noch gesagt:

„Du sollst später zu den Missionaren nach Bonginda gehen und tun, was die dir sagen!“

Am nächsten Morgen bekamen die Leute im Dorf furchtbare Angst vor den Ahnengeistern, als ihr Häuptling alle Amulette und Fetische in den Fluss warf. Sie dachten, dass er im Fieber verrückt geworden wäre. Und dass sie jetzt alle unter der Rache der Ahnen zu leiden hätten.

Aber es passierte nichts. Ihr Häuptling wurde ganz schnell gesund und ging dann bald nach Bonginda, wurde Christ und der Evangelist, der die ganze Gegend missioniert hat. Er hat nie lesen und schreiben gelernt, kannte auch nur ganz wenige biblische Geschichten. Aber er hatte selber die Engel gesehen. Das, und seine große Narbe machten ihn sehr glaubwürdig.

Das ist nun schon lange her und viel ist inzwischen passiert, aber der Fluss und der Wald sind geblieben, wie sie immer waren.

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Die Menschen leiden und jemand, der eine heilende, glücklich machende Botschaft hätte, würde heute eher gebraucht als früher. Die Kirchen und Krankenstationen, die wir damals gebaut haben, sind teilweise zerstört und Perspektivlosigkeit und Hoffnungslosigkeit machen die Stimmung aus. Schulen gibt es schon gar nicht mehr.

Aber dann habe ich mich noch gewundert, denn ein ganz junger Mann hat den 23. Psalm zitiert:

„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir!“

Damit wollte er uns einen Trost für unsere Weiterfahrt spenden. Das kam aus der tiefsten Stelle seiner Seele. Also ist vom geistlichen Samen der alten Missionare doch mehr übrig geblieben, als ich gedacht hatte. Vor allem Beständiges, etwas was Krieg, Plünderung und Enttäuschung nicht zerstören konnten. Es hat uns wirklich getröstet, und wir sind wieder den Eleku hinab in die Lulonga gefahren.