Die Moskitomission

Irgendwie tut einem die Weite des großen Flusses gut. Bei solchen Fahrten sieht man oft eine ganze Stunde lang nichts anderes, als den Fluss mit seinem schwarzen Wasser unter sich, links und rechts den nie enden wollenden Dschungel und darüber einen Himmel mit einem unbeschreiblichen Blau und schneeweißen Wölkchen.

Aber es gibt eine Stelle, da kann keiner hinsehen, denn da muss wohl die Sonne sein, und sie feuert mit aller Macht Hitze und Licht auf uns herunter.

Früher haben wir schon mal Flusspferde beobachtet und selten mal ein Krokodil. Weil nichts passierte, fand man die Reise bald langweilig. Aber später ist einem wohl der Fluss ins Herz gekommen und wir erlebten eine Verwandlung, die ich nicht auf Papier schreiben kann.

Es ist kein Sonnenstich, wenn man beginnt, ganz langsam, zwischen Wölkchen, Baumwipfeln und den, bis ins schwarze Wasser reichenden Lianenschlingen, die Hand des Schöpfers zu erkennen.

So fing unsere Reise wegen des eindringenden Wassers erst aufregend an, wurde dann ein bisschen langweilig und wegen der schlimmen Hitze einschläfernd, endete aber zuletzt in einem Anbetungsrausch, den man wohl kaum in einer gemauerten Kirche erleben kann.

Der Asthmatiker

Aber auf einmal erschien ein tief schwarzer Streifen rechts über dem Wald, der ganz schnell den ganzen Himmel einnahm. Wir hatten fast noch nichts begriffen, als ein Sturm kam, der uns in höchste Seenot brachte und einen solchen Regen mitbrachte, dass selbst Noah seinen Schirm gesucht hätte.

Mit großer Mühe und Not liefen wir eine bewohnte Insel an und flüchteten mit Bébé, meinem Seesack und dem Nötigsten unter einen der Pfahlbauten. Einige Jungs kamen von oben durch den löchrigen Boden zu uns runter, um uns zu begutachten und dann auch zu begrüßen. Oben hörten wir jemand furchtbar husten und röcheln und sie erzählten, dass ihr Großvater wieder mal einen Asthmaanfall hätte.

Ich hatte ein Asthmamittel in meinem Gepäck und gab es ihnen. Als später der Regen nachließ, kletterte ich zu ihnen hinauf ins „Haus“, um zu sehen, wie es dem Alten ging.

Da saß ein Mann auf seiner Schlafpritsche, nein richtiger wäre: Es saß da ein Gerippe mit schwarzer Haut und es ging ihm schon etwas besser. Ich setzte mich zu ihm. Da freute er sich richtig, denn so was war ihm im ganzen langen Leben noch nicht passiert und er nahm die Gelegenheit wahr, mir seine Geschichte zu erzählen.

Er gehörte zu den Flussmenschen. Alle seine Vorfahren waren Fischer. Er hatte erlebt wie die Belgier ins Land kamen, wie alles organisiert und kultiviert wurde. Regelmäßig kamen Schiffe und holten gegen gute Bezahlung die vorgeschriebenen Abgaben ab.

Die katholischen Missionare bauten die Mission Mampoko. Dort war er als Junge auch zur Schule gegangen und hatte später das Schreinerhandwerk gelernt. Weil er geschickt war, hatte er immer Arbeit gehabt. „Da habe ich auch den Herrn Jesus kennen gelernt“, flüsterte er mir hüstelnd zu, „und ich bin da auch getauft worden.“ Nach der Unabhängigkeit begann bald der Rückgang und der allgemeine Verfall.

„Sieh, wir leben hier jetzt schon wie Tiere. Was wir finden, essen wir. Das ist alles. Es gibt hier keine Perspektive mehr für die Jugend, keine Schule, keine Medikamente, kaum Kleidung, um sich bedecken zu können, kein Salz, kein Petroleum. Wie weit kann es noch bergab gehen?“

Hustend strich er sich über die knochige Brust und die dürren Arme: „Sieh nur, wie alt und krank und mager ich schon bin!“ Aber dann lächelte sein zahnloser Mund, sein Körper straffte sich und seine Augen begannen zu strahlen. Es war, als ob er plötzlich durch das tropfende Hüttendach hindurchsehen könnte, und seine Stimme wurde klar und fest: „Sieh nur, es wird nicht mehr lange dauern, dann werde ich meinen Herrn in seiner Herrlichkeit sehen können, und dann bin ich zu Hause!“

Der ganze Mann hatte sich in einem Moment verändert.

Er strahlte in froher Erwartung, wie ein Kind Heilig Abend vor der Wohnzimmertür. Zuletzt fragte er mich noch, ob ich nicht beten wolle. Ich hatte Tränen in den Augen und konnte bei aller äußeren Armut nur noch Gott, der spürbar bei uns in der Hütte war, nein, der die ganze wackelige Hütte zu erfüllen schien, loben und ihm von Herzen für das reiche Leben dieses alten sterbenden, nein, nach Hause gehenden Mannes danken.

Gedankt habe ich Gott auch für die katholischen Missionare, deren Einsatz so viel gebracht hatte, dass Menschen so hoffnungsvoll sterben konnten. Ich war schon ein bisschen neidisch geworden, obwohl ich ja noch länger leben wollte. Gedankt habe ich aber auch für die Evangelischen, die mir das Asthmamittel eingepackt hatten.

Der Alte strahlte und es war, in dieser Bambuspfahlbauhütte, zwei Meter über dem Erdboden, als ob ein Friedensband zwischen uns beiden geknüpft wurde. Wir hatten uns noch nie gesehen und ich bekam eine große Sehnsucht, ihn in seiner Freude, später mal bei unserm gemeinsamen Herrn anzutreffen, ihn einmal wieder zu sehen.

Wir waren schon wieder ziemlich trocken geworden. Gut, dass es nie kalt wird, wie im eisigen Deutschland, da haben wir unser Boot leer geschöpft und zu Wasser gelassen. Einige Frauen, die sich die ganze Zeit sehr im Hintergrund aufgehalten hatten, brachten drei geräucherte Ngolofische als Abschiedsgeschenk. Welch eine innere Verbindung kann doch während eines einzigen Regenschauers entstehen.

Die Erde will Blut trinken

Der Fluss hatte uns wieder und ich merkte, dass der Urwald auf der linken Seite höher wurde. Das sah aber nur so aus, denn dort war Festland und ein Steilufer von mindestens zehn Metern. Trommeln und Singen hatten wir schon länger gehört, aber hinter einer Biegung sahen wir eine Menge Menschen am und im Wasser stehen, die auf uns gewartet hatten.

Oben auf dem Ufer waren Lehmhütten, das Dorf Bolongo. Das war die erst Gemeinde von Pastor Bokeka und Mama Veronique. Nachrichten laufen hier ganz ohne Handy. Vielleicht war jemand in dem Regen voraus gefahren und hatte erzählt, dass wir kommen würden.

Wir bekamen jedenfalls einen wundervollen Empfang. Die Frauen, die im Wasser standen, hielten unser Boot fest. Inzwischen war der ganze Hang voller singender, händeklatschender und hüftschwingender Menschen. Wir blieben im Boot stehen. Ein Segensgebet wurde gesprochen und danach noch ein Lied gesungen, dann wurden wir offiziell an Land gebeten, schüttelten viele Hände und stiegen den Hang hinauf.

Später hat mir Bokeka erklärt, dass das alles nur wegen mir geschehen war und gesagt:

„Bevor die Leute Christen wurden, war es so, dass wir nur Sippenangehörigen den Zutritt in unsre Dörfer gestatteten. Alle Nichtverwandten wurden als Feinde angesehen und möglichst getötet, wenn sie versuchten unsere Erde zu betreten. Das war Gesetz. Die Erde muss Blut trinken, wenn sie durch Fremde beschmutz wurde. Wenn aber doch einmal, wegen besonderer Umstände, ein Fremder und seine Begleiter ins Dorf sollten, blieben sie im Boot stehen. Die Alten kamen zu ihnen ans Ufer und in einem heiligen Ritual wurde ein Tier getötet. Das Blut wurde feierlich auf die Erde gegossen, die Alten und die Fremden wurden mit dem Blut an Stirn und Schultern gezeichnet und so war es möglich, dass sie zu uns kamen. Sie hatten dann auch den vollen Gastschutz. Den hast du heute auch und es kann dir nun in unserm Dorf nichts gestohlen werden. Es würde auch ganz schlimm für uns sein, wenn dir bei uns etwas zustieße oder du krank würdest.“

„Das ist aber schön“, sagte ich, „trotzdem passe ich doch lieber ein bisschen auf meine Sachen auf. Ihr habt jetzt kein Tier geschlachtet und die Erde hat auch kein Blut getrunken. Das braucht sie wegen mir auch nicht unbedingt.“

Da wurde Bokeka ernst: „Hast du beim Gebet nicht aufgepasst?“

„Nein, es war sehr, sehr lang.“

„Jesus hat sein Blut für uns alle, Schwarze und Weiße verschüttet. Wir sind nun Verwandte, denn darum können wir zu Gott gemeinsam Vater sagen. Kein Tieropfer ist mehr nötig. Daran sollte aber der Kult am Ufer erinnern. In den Himmel kannst du ja auch nicht kommen, wenn die Erde kein Blut getrunken hat! Da musste Jesus ja auch erst sterben, dass du da den Gastschutz bekommst.“

Schön, was aus solch alten heidnischen Riten werden kann, wenn man das Evangelium verstanden hat.

Die Kirche ohne Kirche

Einige Tage habe ich die Gastfreundschaft in Bolongo genossen und bin weder bestohlen, noch krank geworden, wurde aber noch in vielerlei Geheimnisse eingeführt.

Am Sonntag waren wir in der Kirche, nein sie hatten gar keine Kirche. Das war das Problem der Bolongoleute. Wir saßen auf Baumstämmen, die auf dem Boden lagen, unter einem Schattendach aus alten Palmzweigen, direkt auf der Kante des Steilufers, hoch über dem Fluss, da, wo schon mal ein Lüftchen wehte.

Mehrere Chöre sangen und tanzten nacheinander. Es war schöner, als es im Paradies überhaupt noch sein kann. Die Bolongoleute sahen das ja anders, aber für mich war es die schönste Kirche der Welt.

Ich dachte darüber nach, ob die Kirchen ohne Kirche nicht doch die aller schönsten wären, und ich habe vorgelesen, was Jesus mal gesagt hat:

„Baleki na ngai. Das heißt: Meine lieben jüngeren Geschwister. Legt doch euer ganzes Leben mit allen Wünschen und Sorgen ganz in meine Hände und vertraut auf unsern himmlischen Vater. In seinem großen Dorf ist viel Platz und es gibt noch viele schöne leer stehende Hütten. Ich selber gehe dahin und schau mal, ob wirklich alles in Ordnung ist. Wenn nicht, renoviere ich selber, damit ihr euch wirklich wohl fühlen könnt. Ich selber sorge auch dafür, dass ihr dort freundlich empfangen werdet. Also, macht euch keine unnötigen Sorgen!“

So ähnlich kann man es anfangs in Johannes 14 lesen.

Der Glaube der Fischerfrauen

Nach dem Essen, Bokeka und ich saßen im Schatten unter einer der Ölpalmen und guckten auf den Fluss hinunter und über die Inseln und die ganze Welt, da habe ich ihn gefragt:

„Du bist ja Pastor, kannst lesen und schreiben und hast drei Jahre die Bibelschule besucht. Wie sieht das denn mit den Christen hier aus? Du sagst, hier wäre noch nie ein Weißer gewesen. Sind die Leute hier denn überhaupt richtig evangelisch?“

Er guckt mich ein bisschen verbiestert an und ich frage weiter:

„Wie und was glauben die Leute hier bei der Armut und allen Entbehrungen denn so? In Deutschland ist es so, dass manche Menschen, wenn es ihnen dreckig geht, sich immer fester an Gott klammern. Not lässt sie im Glauben wachsen. Andere sagen bei Problemen: Wir können nicht an Gott glauben, wenn es ihn gäbe, würde er solche Katastrophen nicht zulassen. Die gleiche Not lässt diese Leute ihren Glauben nachher ganz verlieren.“

Bokeka überlegt lange über meine schwere Frage. Auf einmal zeigte er zum Fluß hinab und sagt:

„Siehst du die beiden Frauen dort. Vorgestern sind sie mit ihrem Boot abgefahren und haben mich gebeten, sie vorher zu segnen, so wie es üblich ist. Sie haben gesagt: Den ersten Fisch, den wir fangen, opfern wir Gott. Wir geben ihn dir, denn du hast einen Gast zu versorgen. Sie bekamen Gottes Segen und sind weggepaddelt.“

Diese Frauen fangen mit Netzen, die sie auswerfen und die dann wie eine Glocke hinabsinken und sich auf dem Boden zuziehen. Ihren Fang stecken sie dann lebend in einen Deckelkorb, der hinten am Boot im Wasser hängt. Tote Fische halten sich bei der Hitze nicht lange.

Diese beiden waren noch nicht lange unterwegs da hatten sie schon einen riesigen Mbotofisch gefangen und verstaut. Sie warfen wieder und wieder, aber sie fingen nichts mehr. Eine der Frauen sagte:

„Ich habe Hunger, lasst uns den Fisch am Ufer braten.“

„Nein, “ sagte die andere, „das geht nicht, das ist der erste Fisch, Gottes Fisch, den dürfen wir nicht essen!“

„Quatsch“, sagte die erste, „wir fangen Gott morgen zwei andere Fische. Lass ihn uns jetzt braten und essen.“

Wie lange die Diskussion noch gedauert hat wusste niemand mehr, aber am Abend kam Gottes Fisch in die Pfanne. Beziehungsweise, er wurde in Blättern über dem Feuer gedünstet. Bokeka berichtete dann noch:

„Sie haben gestern den ganzen Tag geworfen und nicht einen einzigen kleinen Fisch gefangen, und das ist nicht normal. Am Abend kamen sie und weinten beide:

„Pastor, wir haben gesündigt. Wir haben Gottes Fisch, den wir dir versprochen haben, gegessen. Wir können keine Fische mehr fangen. Den ganzen Tag haben wir es versucht. Was können wir machen, dass Gott seine Strafe wieder von uns nimmt? Wir sind sonst verloren.“

Ich habe ihnen gesagt, dass Gott gesagt hat:

„Wer seine Sünden bekennt, dem wird vergeben und er wird wieder ganz rein. Gut, das habt ihr getan, alles ist jetzt vergeben. So konnte ich ihnen die Vergebung und Befreiung zusprechen. Ich habe mit ihnen gebetet und wir haben ein Lied zusammen gesungen. Und wenn sie jetzt wieder raus fahren, wirst du morgen sehen, wie viele Fische sie fangen. Das ist der Glaube der Leute hier!“

Das war mir dann auch evangelisch genug.

Die Regennacht in Bokoko

Am Äquator geht die Sonne regelmäßig um 6 Uhr auf und um 18 Uhr unter. Da gibt es lange Abende ohne Strom. Aber überall, wo ich übernachtet habe wurde immer ein großes Feuer entzündet und dann gab es den „Soirée musical“. Das heißt: Es wurde immer so lange getrommelt, getanzt und gesungen, bis ich um Erbarmen bettelte.

Todmüde roll ich dann meine Decke auf der Knüppelkonstruktion aus, die man hier Bett nennt, und bin immer schnell unter dem Mückennetz eingeschlafen. Die Hitze schlaucht die Europäer schon. Dafür ist man aber auch schon um drei Uhr wieder wach und wälzt sich bis zum Morgengrauen auf dem Knüppelgestell herum.

Wirklich schlimm war eine Nacht mit Tropengewitter in einem Dörfchen auf einer Insel im Kongostrom. Sie hatten mir eine Hütte gegeben die auf dem Boden stand, also keine Pfahlbauhütte auf Stelzen. Weil das Hochwasser doch schon mal bis in die Hütte kam, gab es darin ein Hochbett. Also, ein wackeliges Knüppelgestell auf vier dünnen einmeterhohen Knüppelbeinen.

Wir hatten das Netz oben in der Dachkonstruktion sachgerecht befestigt und ich stieg auf und bereitete meine Decke aus, die ja immer nur als Matratze diente. Wie gewohnt versuchte ich, für meine Hüftknochen irgendwo eine Mulde zu finden, weil ich besser auf der Seite einschlafen kann. Meine kleine Tasche kam immer oben unter die Decke als Kopfkissen.

Kaum waren Bett und ich uns einig geworden und Träume von Elisabeths Kuschelschlafzimmer verbesserten mein Dasein, da kam ein so apokalyptisches Gewitter, dass ich anfing mir echte Zukunftssorgen zu machen. Am Himmel, nein, in der ganzen Umgebung spielte sich ein derartiges Feuerwerk ab, dass der Donner zu einem Dauerton wurde.

Die Hütte, die ja nur aus Holzknüppel, Palmblattgeflechten und Lianen bestand, wackelte in dem Sturm so schlimm, dass ich jeden Moment dachte:

„Jetzt fliegt sie weg, und dann fliegst du mit deinem Hochbett gleich hinterher.“

Aber sie hat Stand gehalten. Es tropfte recht energisch zuerst am Kopfende durch, und ich rutschte mit meiner Decke ein bisschen runter, dann wurde es links ganz kalt. Zuletzt hing ich wie ein Fragezeichen zwischen den einzelnen Tropfstellen. Gut, dass zwischen den Knüppeln alles sofort durchtropfen konnte.

Unter dem Bett schien nun ein Bach durchzulaufen. Der Boden solcher Hütten ist ja schräg und naturbelassen: Es plätscherte ordentlich. Als es nachher stiller wurde, konnte ich den Nerven zersägenden Gesang der Moskitos um mein Netzt herum hören. Die waren wohl alle zu mir in die Hütte geflüchtet, schwirrten um mein Netzt herum und ich konnte genau hören, wie sie sangen: „Weißes Blut schmeckt Moskitos gut.“

Zwei oder drei waren schon im Netz. Ich hatte ja auch ein Laken mit, und in solchen Fällen verkroch ich mich immer darunter, obwohl sie da auch durch stachen. Den andern war es auch nicht besser ergangen, als mir.

Pastor Bokeka, Mama Veronique und klein Bébé mit den beiden Gemeindeältesten hatten in einem Moskitoschwarm unter einer Plastikfolie das Ende der Nacht und des Regens abgewartet. Mir hatten sie wohl die Luxushütte des Dorfes gegeben.

Am Morgen bestand das ganze Dorf nur noch aus Schlamm, zerfetzten Hütten und unsagbar schlecht gelaunten Menschen. Kalt war es auch. Ich fand ein trockenes Plätzchen an der Kirchenwand und holte die einzige Bank aus der Kirche und wartete dort auf die Sonne. Meine Bibel hatte ich mitgebracht und wollte mich für den Gottesdienst innerlich ein bisschen vorbereiten.

Heiratspläne

Drei winzig kleine Mädchen guckten grinsend und ängstlich um die Ecke und störten meine hochtheologischen Gedankenschwünge.

„Habt ihr noch nie einen Weißen gesehen?“

„Doch, auf dem Schiff saß mal einer, den haben wir gesehen, aber wir haben noch nie einen angefasst.“

„Wollt ihr mal?“

„Dürfen wir auch deine geraden Haare anfassen?“

„Na kommt. Wer will denn zuerst?“

fragte ich einladend. Da kamen sie und mein Schnurrbart war wohl die Spitze. Aber sie machten auch einen Finger nass und rieben auf meinem Arm, um zu sehen, ob die weiße Farbe nicht doch abging. „Deine Haut ist sehr praktisch, man sieht keinen Staub darauf, wie bei uns“, flüsterten sie.

Sie waren so begeistert, dass sie mich überreden wollten, mindestens eine von ihnen zu heiraten. Eine, die aller kleinste war ein bisschen heller als die andern, und sie waren sich schnell einig, dass die wohl am besten zu mir passen würde.

Sie wollte auch mit mir bis nach Deutschland fahren und immer für mich da sein. Als sie aber erfuhr, dass ich dort schon eine Frau habe, bekam sie Zweifel, ob die sie nicht verhauen würde, wenn sie mit mir auftauchen würde. Schweren Herzens haben wir das ganze Projekt aufgegeben.

Am Fluss sieht man fast nur schöne, gesunde und saubere Kinder. Sie sind ja auch den halben Tag im Wasser. Und Fische sind sehr gesund. Aber Schulen und Krankenstationen gibt es nicht.

Als dann viel später der Gottesdienst begann, fiel mir der Junge ein, der Jesus die fünf Brote und zwei Fische geschenkt hatte. Als ob das einfach so gegangen wäre. Kein Junge gibt ohne Widerstand seinen Mc-Fish her.

Natürlich hatte Jesus sich mit dem Jungen schon längst angefreundet und die beiden hatten sicherlich eine viel bessere Freundschaft miteinander, als die 4999 andern Teilnehmer des Festessens. Einem Freund gibt man doch gerne seine Sachen. Wer Jesu Freund ist, verkauft auch alles, was er hat und gibt es ab.

Schade, dass die Bibel so oberflächlich geschrieben wurde. Die Konversation zwischen den beiden haben sie vergessen und die wäre sehr wichtig gewesen. Ich bin inzwischen ganz sicher, dass man bei der Begegnung mit Kindern, Jesus viel besser kennen lernen kann, als bei einem Theologiestudium.

Vielvölkerfluss

Alle sind mal hierher gezogen. Jede Insel hat ihre eigene Nationalität und Sprache und meistens auch ihre eigene Religion. Es gibt Inseln mit Cadelu, Disciples, Katholiken, Bramanen, Zeugen Jehova, Mzambe-Malamu, Pentecôters und schrecklich viel mehr. Pfingstler sind sie eigentlich alle schon von Geburt an.

Das Zusammenleben verläuft auch nicht immer reibungslos und ohne Blutvergießen und ich hörte grausige Geschichten. Es gibt hier auch keine Polizei oder Verkehrskontrollen und Blitzkisten. Vor allem die vom Bangalastamm gelten bis heute als wilde Krieger und gute Soldaten. Darum ist die Militärsprache auch Lingala.

Gerade in diesen Tagen war wieder große Aufregung und Misstrauen auf allen Inseln und auch auf Bobangi, wo wir uns länger aufhielten. Im Moment gab es eine große Racheoperation des Militärs, das aus Mbandaka gekommen war.

Die Leute erzählten, dass ein Schubschiff mit seinem Edelholzfloß unerlaubt an einer Insel angelegt hätte und es zu einer Schlägerei gekommen wäre. In der Wut hätte jemand den Kapitän mit einem Moswoi in den Oberschenkel gestochen, das ist eine vierspitzige Fischergabel mit Widerhaken. Zum Glück waren die Zinken so lang, dass sie auf der anderen Seite herauskamen, und ein „Mediziner“ in Lulonga sie abschneiden und herausziehen konnte.

Auf dem Weg nach Mbandaka ist der Kapitän dann aber gestorben. Da hatten die Soldaten schon zwei Dörfer niedergebrannt und einige andere geplündert und viele Verwandten des mutmaßlichen Täters gefangen genommen. Sie hatten auch schon mit den Folterungen begonnen.

Erwachsenentaufe

Morgens um halb sieben fanden schon Taufen im Fluß statt. Man nutzte die Gelegenheit, weil Pastor Bokeka gekommen war. Vier junge Burschen wollten unbedingt Christen werden. Das ganze Dorf war gekommen, um zuzusehen und bezeugen zu können. Auch Menschen in Booten von Nachbarinseln sahen zu. Ich war wohl der einzige Zweifler.

„Tata Pasteur Bokeka, wie kannst du diese Hechte einfach taufen? Die können nicht lesen, nicht schreiben und vielleicht haben sie sich gestern noch geprügelt. Das ganze Christentum wird unglaubwürdig, wenn so etwas schief geht“, war meine Frage in einem stillen Moment.

„Du hast wieder nicht aufgepasst“, erklärte er. „Ich habe sie doch nicht auf die CADELU-Kirche oder die Kraft ihrer eigenen Frömmigkeit getauft. Ich habe sie auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geist getauft. Da ist Veränderung, da ist Kraft, da ist ganz alleine Sicherheit, auch nur darauf besteht unsere Kirche! Glaub daran!“

Später haben wir über Abraham nachgedacht, den Gott aus seiner Sippe berief und segnete und zum Segen machte. Pastor Bokeka sagte zuletzt:

„Das passiert auch immer wieder bei unsern Taufen. Was denkst du denn, wieso ich eigentlich bis heute noch Pastor bin?“

Die Insel Mongana

So, wie auf der Insel Bobangi alles sauber und ordentlich ist und alle Hütten stabil gerade und mit ganzen Dächern stehen, ist in Mongana alles kaputt und überall liegen alte Blätter, Hundehaufen und trockenes Gras. Es gibt auch gar kein Festland, keinen einzigen Baum, nur Sand und Schilf und ganz erbärmliche, wackelige Hütten auf sehr hohen, dünnen, teilweise angefaulten Pfählen. Die Böden in den Hütten über den Pfählen haben riesige Löcher. Nicht eine Hütte hat alle vier Wände oder beide Dachhälften.

Wenn ich so was sehe, bringt es mich sofort ins Gebet: „Lieber Gott, lass es bitte in dieser Nacht nicht wieder regnen.“ Es blieb die ganze Nacht trocken. Da war es mir egal, wie es hier aussah. Ich würde schon irgendwann einschlafen, zwei Meter über dem Wasserspiegel. Trockenzeit.

Das Ende der Geistesgaben

Bei der abendlichen obligatorische Sing- und Tanzveranstaltung erzählte mir die gute Mama Charlotte am Feuer von der Frauenarbeit der Inselkirche. Eine Christin hatte zu der Zeit übernatürliche Geistesgaben, wie Zungenrede, Prophetie, Krankenheilung. Es sind damals wirklich ungeheuerliche Wunder geschehen.

Alle Chöre auf den Inseln freuten sich über diese Frau, denn manchmal wurde sie morgens wach und konnte ein ganz neues Lied komplett mit Text und Melodie vortragen. Dann machte sich ein Chorsänger Notizen und am Sonntag konnte der Chor das Lied in der Kirche singen.
Davids Psalmen sind wahrscheinlich ähnlich zustande gekommen. Wo sollte der Hirtenjunge sonst solche Sprüche her haben?

Die Frau reiste viel umher, predigte, heilte und half vielen Menschen. Aber langsam fing sie an, immer mehr zu ermahnen und über Sünden und Unmoral zu schimpfen. Mama Charlotte sagte:

„Sie wurde unerträglich, aber alle hatten Angst vor dieser Frau und ihren Kräften. Da hatte Gott aber wieder Erbarmen mit uns und er ließ diese fromme und unverheiratete Frau auf einmal schwanger werden. Ende der Karriere! Schade ist, dass sie dann aber auch ganz und gar ihren Glauben an Gott verloren hat. Sie besucht auch schon lange keinen Gottesdienst mehr. Aber Gott ist Barmherzig!“

Die Kranken

Am Morgen gab es in Mongana ein großes Geschrei, denn eine junge Frau hatte sich beim Kaffeewasserholzhacken mit der Machete ins Schienbein geschlagen und eine tiefe, zehn Zentimeter lange, blutende Wunde verursacht. Vier Leute hielten sie am Boden und ein „Heilpraktiker“ nähte die Wunde mit einer krummen Polsternadel und Angelschnur wieder zusammen.

Ich fand noch Penizillinpuder und Schmerztabletten im Gepäck. Dann bin ich geflüchtet. In dem riesigen Gebiet gab es keinerlei Medikamente, nicht mal Leukoplast. Die Menschen lebten in diesem Paradies provisorisch.

Drei sterbende Kinder habe ich hier gesehen, die wohl gerade die Masern überlebt hatten, nun aber keine Widerstandskraft mehr gegen Erkältung und Parasiten hatten. Jesu hat gesagt:

„Seht zu, dass ihr nicht einen von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: Ihre Engel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel.“

Wenn man aber so etwas ansehen muss, zweifelt man ernsthaft an diesen Engeln. Oder zeigen diese Engel mit dem Finger auf die überversorgten Kinder und ihre Eltern in Europa und Amerika?

Wer könnte wohl solch eine Reise ohne Zweifel durchstehen oder für alles eine Erklärung finden? Für mich war der einzige Trost, glauben zu können, dass diese Kinder im Himmel einen höheren Stellenwert haben würden, als die Pastoren hier unten.

Mit dem Zauberbesen bis Lolanga

Der alte Engumbe war kurz vor unserer Abfahrt der Meinung, mir einen Zauberbesen zu vermachen – schließlich habe ich schon weiße Haare, befand er. Mit diesem Besen könnte ich Moskitos und auch Geister und allerlei andere Plagegeister vertreiben. Stolz und mit vielen Dankesworten nahm ich ihn in Empfang – und gegen Moskitos war er wirklich erfolgreich.

Später auf der Fahrt fühlte ich mich nicht gut. Ich hatte das Gefühl, krank zu werden. Mama Veronique meinte, ob ich denn genug Lariam gegen Malaria genommen hätte? Das hatte ich. Daran konnte es nicht liegen.

Da kam mir die Idee, dass ich in den vergangenen Tagen so viele Bibelstellen zitiert hatte, dass ich vielleicht eine Bibelstellenallergie davon bekommen hätte. Jetzt, wo wir alle Inseln mit ihren Pfahlbaugemeinden besucht hatten, könnte ich mich doch mal wieder mehr weltlichen Dingen zuwenden. Dann ging es mir sicher bald wieder besser.

So war es dann auch. Wir waren schon früh abgefahren, wurden aber kurz vor Sonnenuntergang bei einer engen Durchfahrt zwischen zwei Inseln gestoppt. Fischer, bis zur Brust im Wasser, waren im Schilf dabei, Fische in ihre Mileka zu treiben. Sie riefen uns zu und versprachen uns einen großen Mbotofisch, wenn sie gleich die Mileka ausleeren würden. Da kann niemand widerstehen und bald kamen sie mit der drei Meter langen Reuse zu ihrem Boot. Sie kippten sie aus und das Boot wurde so voll großer Fische, dass ich Angst hatte, es würde untergehen.

Fisch ist hier am Fleuve die feste Währung. „Sieh mal Weißer, “ riefen sie, „Gott zahlt seine Leute besser als der Staat. Wir können sogar dir noch etwas von unserm Reichtum schenken.“ Immer wieder kommen hier auch Schiffe vorbei und es wird geräucherter Fisch verkauft.

Ich habe auf der ganzen Flussreise niemanden klagen oder betteln hören. Sicher haben die Menschen dort Wünsche, aber sie sind nicht arm. Weil wir so lange auf die Fische gewartet hatten, wurde es stockdunkel, und wir gerieten noch in absoluter Dunkelheit in die großen Strudel über den Felsen bei Lolanga.

Festland ist, wenn man wieder darauf steht, etwas ganz wunderbares. Das Dorf Lolanga ist hier die Stadt und es gibt Schulen und Krankenstationen – evangelische und katholische. Und es gibt unzählige Händler, Sektenprediger, Schnapsverkäufer und Prostituierte.

Wir wurden aber von dem alten Pastor Mokala königlich empfangen und an einem Tisch, auf Stühlen sitzend hoheitlich bewirtet.

Der alte Mokala war der Oberpastor in Lolanga und er liebte die Weißen, wie seine eigenen Großeltern, obwohl ich sein Enkel hätte sein können. In dieser Nacht habe ich in einem festen, alten Haus mit Wellblechplattendach und auf einer Schaumstoffmatratze geschlafen. Das war eine Umstellung.